Montag, Juni 26, 2006

Doppelpacken


Merhaba, selam alaykum, rozbaş - die wichtigen Wörter der nächsten Wochen, "Servus" für die Völker Anatoliens.

Habe gestern angefangen meine Koffer zu packen. Ein doppeltes Packen - nicht nur für meine nun beginnenden Reisen zu Türken, Arabern, Kurden, (Rest-)Armeniern etcetera pp., sondern auch weil das Bilgi Wohnheim weitgehend geräumt wird für hier bald akkommodierenden StudentInnen der Bilgi Summer School. Was für andere also ein Desaster ist, weil sie nun nicht wissen wohin mit ihren Home-Cinema-Anlagen, illegal-DVD-Sammlungen und - freilich - Studienbüchern, ist für mich zwar eine organisatorische Herausforderung angesichts der tatsächlich siebenhundertsiebenundsiebzig Sachen, aber im Verhältnis dann doch ein überschaubares Unterfangen. Und trotzdem: noch einmal Wäsche waschen, Reisetaschen mit Krimskrams füllen, Unnötiges entsorgen - mal wieder unglaublich, was sich alles ansammelt in nur einem Jahr... Jedenfalls werden zwei Taschen gepackt: die eine mit den nicht-Kurdistan geeigneten Dingen, die andere mich für den Trip ausstaffierend angelegt. Öff! (türk. Ausdruck der Erschöpfung)

Kurdistan? - Ja, richtig gelesen. Um genau zu sein: morgen nachts kommt Georg aus München, und am Morgen des 29. Juni geht unser Pegasus Flug mit Zwischenstopp Ankara nach Van. Von dort aus reisen wir zusammen eine knappe Woche durchs Land der Kurden (oder offiziell "Südostanatolien", damit sich die Araber, Türken, Armenier etcetera pp. nicht diskriminiert fühlen) mit Unterbrechungen in Doğubayazid und Akdamar, Batman und Hasankeyf, Mardin und Midyat, Şanlıurfa und Diyarbarkir für a) Sightseeing, um b) die angeblich beste Küche der Türkei zu genießen und das alles c) ohne ein Spiel der deutschen Elf auszulassen. (Jut macht ihr dat, Jungs!) Am Abend des 7. Juli gehts für Georg wieder heim und ich werde mich langsam von Stadt zu Stadt und Freund zu Freund Richtung Westen tingeln - Public Relation quasi. Denn wenn die Türkei schon nicht nach Deutschland durfte, dann kommt Deutschland eben in die Türkei. Der Freund zu Gast in der Welt.

Um jedoch keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: dem Reiseziel liegt weniger die Intention zu Grunde, Urlaub zu machen, als denn Feldstudien zu betreiben: Welchen Blick hatte denn der Işak Paşa als er von seinem Palast in Doğubayazid hinüber nach Persien sah? Hört dort Europa auf oder kann der noch immer unterentwickelte Geist des kosmopolitischen Europas bis dorthin getragen werden? Oder haben ihn die türkischen und kurdischen Migranten, vor Jahrzehnten nach Westeuropa kommend und seither zwischen den Welten, auf der Brücke des transnational space lebend, nicht gar dort entwickelt - diesen Gedanken, dass die Andersheit des Anderen einfach zu akzeptieren ist um aus der Vielfalt der Differenzen das Höchstmaß an Potenzial gewinnen zu können? Ich werde kommen, sehen und berichten...

Andererseits möchte ich jedoch auch jegliche Bedenken aus dem Weg räumen, dass nach all der getanen Arbeit (wie im letzten Semester in allen Kursen mit A geglänzt!) mein Urlaubsbedüftnis keine Befriedigung gefunden hat. Nein, letzte Woche gings für ein paar Tage nach Bodrum zu Naomi und Mert (Misafirperverliğinizi için çok teşekkür ederim, arkadaşlar!), anschließend mit den Griechen Antonis, Alexis und Eleni per Bus nach Dalyan, Fethiye, Ölüdeniz und Faralya, wo obiges Foto mit Elenis Paragliding-Trainern beim Après-soleil-Grillen entstand. To you as well, dear Hellenics: Efharistó!

Schluss jetzt! Morgen muss ich früh raus, die letzten Dinge erledigen, zu Ende packen, mich von Susana und Julien, Aycın und Mark sowie einigen anderen verabschieden und gen Abend zum Flughafen fahren um "den Ağabey" willkommen zu heißen. Rückkehr nach Istanbul geplant für etwa den 15. Juli; bis dahin wird der Blog wohl schweigen. Doch das Ende ist noch nicht erreicht.

Saygılarımlar
Ludwig Paşa

"Wir sollten unsere Lebensfrist angesichts ihrer Kürze eigentlich nur für solche Dinge verwenden, von denen wir für morgen ein glückliches Jenseits und eine Stätte seliger Heimkehr erhoffen dürfen."
Ibn Hazm al-Andalûzi (993 - 1064)

Donnerstag, Juni 01, 2006

Juni

Seit knapp zwei Stunden ist Juni 2006. Für mich heißt das: noch 49 Tage Türkei. Für den großen Rest der Welt dagegen wohl: Football World Championship in Germany. Was besser ist, vermag der Leser für sich zu entscheiden - ich für meinen Teil bin glücklich weder mitsehen noch mithören noch mitkommentieren zu müssen, woran's nun lag, dass... Aber egal, wichtiger ist, dass alles gut läuft, es keine unschönen Zwischenfälle gibt und am deutschen Wesen die Welt genesen soll. İnşallah - dafür bete ich, und dafür, dass meine Nase zu laufen aufhört, die dank überall brummender Klimaanlagen Nebenresultat des nun schon zwei Wochen anhaltenden Sommerwetters ist.
Glückliche Genießer dieses Wetters waren ja bereits schon die Jungwissenschaftler vor knapp drei Wochen, und ihnen gleich tat es vergangenes Wochenende teyze Maxi und enişte Hermann, nach einer langen Phase glücklicher Sesshaftigkeit im schönen Lippertshofen endlich wieder in der Weltgeschichte herumreisend. So wurden beide freudigst "Hoş geldin!" geheißen und ebendiese Freude wurde gefunden: in der Hagia Sofia und Sultanahmet, in der İstiklâl Caddesi und Beyoğlu, in den Fischlokalen Ortaköys und Kumkapıs, unter den Kuppeln der Bazaare und selbstverständlich auf den Stadtterrassen mit Bosporus- und Metropolenblick.
Liebe Maxi, lieber Hermann, es waren rakıseelig-lustige, unvergessliche Tage mit Euch, für die ich Euch von Herzen danke!

Abgesehen von diesem Besuch ereigneten sich noch zwei weitere, erwähnenswerte Dinge in dieser Maihälfte: am 19. Mai feierte die Türkei den 87. Jahrestag der Ankunft Mustafa Kemal Atatürks und seiner Gefolgsleute in Samsun - der offizielle Beginn des türkischen Unabhängigkeits- oder Befreiungskrieges, später dann der Jugend und dem Sport gewidmet und daher mit viel Pomp und Circumstance gefeiert. So wurden meine jüngfräulich westdeutsch-demokratischen Augen und Ohren im Beşiktaş-Stadion einem Spektakel mit vielen rot-weißen Fahnen, Fähnlein und Menschenbildern, "Wie-froh-ein-Türke-zu-sein"-Spruchbändern und "Atatürk-wir-folgen-Dir"-Slogans gewahr. Um ehrlich zu sein, ja, ich war geschockt, fühlte ich mich erinnert an Bilder vielleicht aus Moskau in den 1960ern oder Berlin in den 1930ern. Ich fragte mich ob die Fratze der Demagogie und des Populismus' je ihr fieses Lächeln verliert? Und schafft es die EU, den manipulierten Türkinnen und Türken die seit Sèvres 1920 aufoktroyierte Angst vor dem "inneren" und dem "äußeren Feind" zu nehmen, indem sie den selbsternannten Wahrern des kemalistischen Vermächtnisses das Monopol über die Sicherung der republikanischen Souveränität entreist durch das Instrument der demokratischen Stabilisierung genannt Erweiterung?
Dass Hilfe nötig ist, wurde mir auch gestern erneut bewusst als ich an einer elfstündigen Tour in den Istanbuler Osten teilnahm. Mit Orhan Esen, Wirtschafts- und Sozialhistoriker und Urbanisierungsforscher (http://www.perlentaucher.de/buch/21262.html) ging es auf illegalen Highways in die asiatische Peripherie der Stadt, in die Gecekondus der ersten, zweiten und dritten Generation an Immigranten und kriminellen Landmafiosi (oder sog. "informellen Entwicklern"); in gated communities, d. h. hoch ummauerte Einfamilien-(Alb)Traumhaus-Siedlungen für hunderte und tausende von Menschen, die zu Hauf am östlichen Stadtrand entstehen und eine ideale Welt mit Swimmingpool, Grünflächen und Freizeitanlagen vorgaukeln, während außerhalb der Mauern der Moloch seine Opfer frisst. Und vom Altındağı-Hügel erblickte man nicht nur die neue Formel1-Strecke im eigentlich dem Naturschutz zuzuschreibenden Gebiet, sondern auch die überlebenswichtigen Wasserspeicher der Stadt, deren Sauberkeit und Natürlichkeit unter der fortschreitenden Ausbreitung der Siedlungs- und Industriefläche zu leiden haben. Und es schien, als würde der Sommerwind die leisen Hilferufe der Stadt heranwehen, die der Verkehrslärm im Zentrum sonst immer erstickt...

Istanbul - nach achteinhalb Monaten heißt's langsam Abschied nehmen. Noch nicht Abschied Richtung Fussballweltmeisterschaftsausträger 2006, sondern erstmal in die Gegenrichtung. Die Vorlesungszeit geht zu Ende und nach den kommenden Final exams plane ich ein paar Wochen Herumreisen in Anatolien. Genaue Etappenziele, Dauer und Mitreisende sind noch weitgehend unbekannt, aber die Konzeptionsphase läuft bereits. Die Rückkehr nach Istanbul ist geplant für Mitte Juli und nach ein paar Tagen des Abscheidens werde ich am 19. Juli meine (eher siebenundsiebzig denn) sieben Sachen packen. Bis dahin werde ich mich aber sicherlich noch einige Male an diesem Ort melden, lade den geneigten Leser also herzlich ein, meiner Seite die Treue und Neugier zu halten und verbleibe mit den besten Grüßen

Ludwig Paşa