Montag, Juli 17, 2006

Anadolu, İstanbul und die Merkel'sche Post-WM-Republik


Wahrlich, für den Schlusspunkt muss ich mich selbst loben! Die letzte Etappe meiner Anatolienreise endete gestern nicht einfach in İstanbul, sondern sie endete in İstanbul um halb sechs Uhr mit dem über dem Bosporus hereinbrechenden Morgensonnenlicht, das die noch müden Augen der Menschen blinzeln und die Goldknöpfe der Moscheen, Paläste und Türme in gewohnt beeindruckender Manier blitzen ließ. Harika!
Doch von diesem kurzen Moment des erregten Herzklopfens ging gestern blutdruckmäßig nicht mehr viel. Ich fuhr nur noch zurück ins Dorm, öffnete alles was es zu öffnen gab, dann ab in die Heia und eine verlängerte Runde schlafen: Nur ein Löwe, der jagt, wird auch müde, heißt ein arabisches Sprichwort. Und knapp 800 Fotos zeugen von meiner Beute…

Es ist eine Herausforderung, knapp und kurzweilig zu berichten, was und wie Georg und ich unsere Reise erlebt haben. Allein wird es dem Leser schon Probleme bereiten die Orte, die wir sehen wollten, zu kennen, denn Van und Doğubayazid, Tatvan, Batman und Hasankeyf, Midyat und Mardin (s. Bild), Urfa und Diyarbakir, Malatya, Divriği und Sivas, Amasya, İnebolu und Kasaba sind nun wirklich nicht die Hauptreiseziele des Ottonormal-Touristen. Doch, hört, hört, immer wieder mussten wir in dieser letzten Ecke Anatoliens, 1000 km weg von Istanbul und der vermeintlichen Zivilisation hören, dass „dieses Jahr die Deutschen nicht kommen – nur wegen der Fußball-WM“. Für gewöhnlich lassen Schliehmanns Erben also sonst grüßen, dieses Jahr jedenfalls schickten sie uns als hoffentlich würdevolle Vertreter.

Was wir entdeckten, waren Stätten (und offensichtlich auch Greise) biblischen Alters, von Zivilisationen erbaut und anderen Zivilisation zerstört; was wir sahen, waren die kahlen, harmonischen Berge Kurdistans, die iranische Hochebene und das syrische Tiefplateau, die Täler von Euphrat und Tigris sowie (ich als in der zweiten Reisewoche Alleinreisender) die Getreide- und Reisanbaugebiete von Sivas und Amasya, die tiefgrünen Berge und Täler des Nordens und einen Teil der langen, windigen und hochromantischen Schwarzmeerküste. Was wir schmeckten, waren die Fleischvarianten des Südostens, Fisch aus dem Tigris, selbstgemachtes Fladenbrot von Sinans Mutter in Tatvan, das zähe Eis nach Karamanmaraşer Art, die Weltexporthits: Aprikosen aus Malatya und Wassermelonen aus Adana, sowie die unbezahlbare Schwarzmeer-Delikatesse „eine große Schüssel frische Walderdbeeren“. Was wir fühlten, das war ostanatolischer Sommerregen wie auch mittelöstliche Sommerhitze; das waren die einzigartigen Wasserqualitäten von Vansee, Tigris und Schwarzmeer; das waren aber vor allem die Wärme und Gastfreundschaft von Kurden, Türken, Arabern, Zentral- und Nordanatolen und ihren heute vermischten, ab- und rückgewanderten Abkömmlingen:
„Was Du kommst aus Bayern? Hab ich doch in Alanya elf Jahre ein Restaurant gehabt, die Bayern waren mir immer die liebsten Gäste… Willst Du ein paar Vorspeisen? Dann lass ich Dir gleich den ganzen Wagen herfahren, nimm Dir soviel Du willst!“, meinte İlahattin, Restaurantbesitzer in İnebolu.
„Unser Hotel ist zwar voll, aber für Euch räumen wir ein Esszimmer aus und richten es als Schlafraum ein. Morgen könnt Ihr ja dann umziehen!“, hieß es im Cevahir Hotel in Urfa (und das Esszimmer sah super aus!).
Erkan aus Diyarbakir sagte: „Wenn Dir irgendwas fehlt, ruf mich an. Egal ob Dir hier oder irgendwo sonst im Südosten was passiert, ruf mich an!“
Und Sinans Vater, Seyithan Amca ließ keine Diskussion aufkommen: „Für heute und morgen seid ihr Gäste in meinem Haus und bei meiner Familie.“ Und als Georg und ich tagsdrauf ausgeschlafen und gesättigt Abschied nahmen, meinte er, es wäre für ihn so gewesen, als wenn seine zwei Ältesten, Sinan und Mimar, hier gewesen wären…

Die Anatolien-Reise ging zu Ende. Die Route machte ein umgekehrtes S, ein Fragezeichen also, über eine türkische Landkarte. Vieles bleibt mir immer noch fremd. Doch ich glaube den ein oder anderen Schlüssel zum Verständnis dieses Volkes entdeckt zu haben. Ich wage nach diesem Studienjahr zu behaupten, dass die oft diagnostizierte Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft in der Radikalität seiner jüngeren Vergangenheit begründet liegt: der radikale top-down-Reformismus Mustafa Kemals und der radikale Atatürkismus der nachfolgenden Eliten in Staatsdienst und Militär; die Zerwürfnisse, die linke und rechte, radikal-religiöse und radikal-laizistische Ideologien dieser Gesellschaft beigefügt haben; die öffentlich konstruierten Bedrohungsperzeptionen, die die Türken glauben ließ und bis heute glauben lässt, dass der Türke nur einen Freund auf dieser Welt hat: den Türken selbst - eine Verschwörungstheorie, die radikal mit der türkischen Gastfreundschaft bricht.
Während ich diese Thesen vornehmlich aus der an der Uni gelesenen Literatur entnommen und in der Realität zumindest partiell und jenseits des doch sonst so normalen Alltags bestätigt wahrnehmen konnte, brachte mir meine Reisen noch eine weitere Erkenntnis:
Ich glaube, dass diese Gesellschaft, anders als die gemeine europäische bis heute ihrer nomadischen Wurzeln nicht entwachsen ist. İstanbul ist eine Ansammlung von Migranten, nicht wie New York oder London mit Migranten aus allen Teilen der Welt, sondern aus allen Teilen der Türkei. İstanbul ist das Hauptzelt dieser physisch zwar niedergelassenen Nomaden, deren tiefere, seelische Wurzeln immer noch in ihren Dörfer und Städte in allen Teilen Anatoliens (oder gar auf dem Balkan, im Nahen Osten, Kaukasus oder in Zentralasien) liegen. Ich habe gesehen wie reich und vielfältig dieses Anatolien ist – im Essen und in der Musik genauso wie in der Sprache und im Verhalten der Menschen. Trotz aller Probleme, die dieses Land hat, seien sie politisch-militärisch, wirtschaftlich, sozial oder menschenrechtlich, trotz aller Schwierigkeiten, die die Menschen mit- und untereinander und mit der Last ihrer radikalen Vergangenheit haben, empfinde ich die mir bewusst gewordene Vielfalt dieser anatolischen Kulturen als ein höchst faszinierendes Phänomen, das näher entdeckt und dessen Potenzial noch viel mehr ausgeschöpft werden kann. Dieses Potenzial nennt sich „Einheit in Vielfalt“ und es soll, für viele Europäer immer noch unbewusst, auch das Potenzial ihrer gemeinsamen Entwicklung und Zukunft sein. „Einheit in Vielfalt“ ist bekannt als das Idealziel europäischer Einigung, das Kernelement des kosmopolitischen Europas. Ich sehe die Türkei als Mittel zum Zweck, dieses uns verbindende und gemeinsame Ziel verfolgen zu können.

Nach zehn Monaten und dieser intensiven zweiwöchigen Reise freue mich auf Deutschland, wenn es mir auch total unbekannt vorkommen wird, dieses Land von Angela Merkel und WM 2006. Ich freue mich auf Euch, die Freunde, und auf das baldige Wiedersehen. Und selbstverständlich ist die Freude auf meine Familie grenzenlos.
Ich danke meinen Lesern und Blogbesuchern, ihnen sei gesagt, dass ich weiter schreiben werde für die neu gewonnenen Freunde und Bekannte in Türkiye und abroad (ergo auf Türkisch oder auf Englisch). Es dankt herzlichst und verabschiedet sich mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus İstanbul

Ludwig Paşa