Samstag, März 25, 2006

Tire und das Glück

Etwas sehr schönes am Auslandsaufenthalt ist die Post, die man bekommt. Nun kommt diese heute ja nicht mehr auf terrestrischem Wege per Bote, sondern als eMail durch den Äther. Und weil das schneller und günstiger ist, kriegt man auch nicht mehr nur einmal Post in langer Zeit, sondern gleich mehrmals täglich. Und so kann's denn auch passieren, dass, wenn man wie ich einmal ein paar Tage nicht mehr zuhause bzw. im WWW war, gleich 38 neue Nachrichten hat, die - Allah sei Dank - nur zu einem Drittel auf Antwort warten.
An alle Absender also: ein herzliches Merci und die Bitte um Geduld, die bekanntlich ja der Schlüssel zur Freude ist.

Tire also hieß das Ausflusziel. Dabei muss der geneigte Türkeifreund wissen, dass Tire eine Kleinstadt mit zwischen 40 und 60 Tausend Einwohnern ist (so genau weiß das keiner) und etwa eineinhalb Autostunden südöstlich von İzmir liegt. Und er muss wissen, dass Metin Sarayköylü von dort kommt - ein Umstand, der der Grund meiner Reise war. Denn Metin wollte mir vieles zeigen:
- den gebürtigen Tireli und LKW-Fahrer Ferhat, der uns mit seinem 20-Tonner in acht Stunden von Istanbul nach Tire brachte und mir das Dasein der türkischen Trucker zeigte (inkl. des Straßenverkehrsvokabulars);
- seine Eltern, deren Leben sich für gewöhnlich nicht in der Erdgeschosswohnung sondern auf der Sonnenterrasse abspielt; ergo seinen Vater, der in einer Käserei arbeitet, und seine Mutter, die zuhause den Haushalt macht, weder Kopftuch trägt noch betet, jedoch den deutschen Gast gern als Neumuslimen gewonnen hätte, den man an die Nachbarstochter hätte verkuppeln können. (Allerdings hätte dies vorher einen kleinen Eingriff unter meiner Gürtellinie vorausgesetzt... Letztlich konnte ich mich also den Avancen erwehren!);
- seine Verwandten, vom amca, der die Familienkäserei leitet, über die teyze, die vor fünf Jahren nach Amerika ausgewandert war und jetzt ganz glücklich endlich wieder Urlaub in der Heimat macht (mit den Söhnen Emre und Eren, die mal Türkisch, mal Englisch reden), bis zum enişte, der mal Tires Bürgermeister von der Mutterlandspartei war und die Stadt mit Parks, Teichen und Arbeitsplätzen bei British American Tobacco versah, dann aber die Wiederwahl verlor, weil er nicht, wie sein Konkurrent von der AKP, jedem Wähler 100 Lira schenkte;
- seine ehemaligen Schul-Freundinnen, die ihn allesamt bewundern, weil er sooo nett ist, und die alle ihre Universitäten in Aydın, İzmir, Ankara und wasweißichwo übers Wochenende verlassen mussten, weil Metin mit seinem deutschen Freund aus İstanbul kommt;
- sein Gymnasium, über das Mustafa Kemal Atatürks Blick wacht, mit seinen Lehrern, die Metin noch gut im Gedächtnis haben, weil er so ein guter Schüler war, und mit denen ich Englisch reden musste, damit ich sehen konnte, dass mein Englisch besser war als ihres (inkl. dessen des Englisch-Lehrers);
- Tires Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich allesamt zu kennen scheinen (abgesehen von den Zigeunern und Kurden, die man nicht kennen will) und landesweit - und nun auch durch diesen Blogeintrag - für ihre Freundlichkeit und gute Laune berühmt sind;
- Tires Einzigartigkeit durch "den größten Dienstagsmarkt der Türkei" (Metin), dem "einzigen Hamam-Holzcolg-Macher der Ägäis" (Metin), der "grünsten Stadt weit und breit" (Metin) usw.
- einen der wohl unislamischsten Orte der Türkei, Şirince, ein Bergdorf in der Nähe von Selcuk, der bekannt ist für seinen Wein und seine Degustiations-Busreisen aus der näheren und weiteren Umgebung (so beispielsweise der Wochenend-Shuttlebus Ägäis Universität İzmir - Weinkelterei Helmut Krauss Şirince);
- die Ruhe, Gelassenheit und Gemütlichkeit des Lebens im beschaulichen, sonnenbeschienenen, frühlingshaften und wunderbar farbenfrohen Tire...

... Doch soll dies alles wahrlich nicht in Gehässigkeit stehen bleiben. Zwar musste ich wirklich das ein oder andere Mal schmunzeln über die Kleinstädtigkeit Tires und der Tireliler, aber mein Gesamteindruck ist schließlich doch der eines sympathischen Ortes der Westägäis in Ausflugsentfernung von İzmir, Ephesus oder dem Meer. Es ist kein von der Außenwelt abgeschnittenes Dorf, aber natürlich auch kein Istanbuler Großstadtchaos. Metins Eltern verlassen den Ort nur alle heilige Zeiten und dann nur in die Umgebung zum Verwandtenbesuch. Sie haben ja alles, sagen sie, was man braucht: ein Dach über den Kopf falls es doch mal länger regnet; Arbeit um sich frischestes Gemüse und Obst, Fleisch und Käse aus der Stadt oder vom umwerfend reichen Markt holen zu können; Allah falls es doch mal brenzlich wird oder um mal Danke zu sagen; und die drei Söhne, aus alldenen was wird: Faik arbeitet beim türkischen Geheimdienst, Mutlu leistet seinen Militärdienst in Istanbul ab und Metin beginnt sein Mathematik-Studium an Bilgi.

Nach diesen Tagen kann man also schon mal fragen: braucht's eigentlich den ganzen Rest? Die neusten Moden, neusten Nachrichten, neusten Unwichtigkeiten? Nun, ich glaub schon. Aber schön, wenn man weiß, dass es auch ohne geht.

Grüezi
Ludwig Paşa

P.S.: Das Tire-Bildmaterial kann nun auch online jedoch leider in schlechter Handy-Qualität begutachtet werden, denn meine Pentax Optio 330 hat nach fünf Jahren und 6000 Bildern den Geist aufgegeben. Mal sehen ob die neue Olympus C-765 hält, was sie verspricht...

Sonntag, März 12, 2006

Was ist passiert?


Was passiert ist? Nun, irgendwie nicht viel - was wohl auch der Grund für meine längere Schreibabstinenz gewesen sein muss. Während Mitteleuropa im Schnee versank, gings hier mediterran-wechselhaft weiter - zum Leidwesen so mancher Gesundheit (nach Sinans und anderer Nasen läuft jetzt auch meine) und auf Kosten des Istanbuler Erlebnispotenzials. Anders ausgedrückt: hab das Wetter genutzt und bin in die Uni gegangen statt Sightseeing-Lücken zu schließen. Somit heißt's also nun wieder Horizonterweiterung, und diesmal ganz im Zeichen der Türkei: jeweils ein Kurs zur Geschichte, zur Politik, zur Kultur und Gesellschaft und zur Sprache werden von mir besucht und handeln allesamt durchwegs interessante Sujets ab. Man darf gespannt sein! (Obgleich der Frühlingsvorspann schon hat anmerken lassen, dass er den Kampf mit der Uni-Attendance aufnehmen möchte...)

Jedenfalls hat das Semester nicht nur neue Kurse sondern auch neue Erasmen gebracht - und Europa hat dabei einen Ruck nach Nordost gemacht: die deutsche Dominanz des letzten Terms wurde gebrochen von vier Tschechen, zwei Polinnen und einer Russin. Die vierköpfige portugiesische Fraktion wurde auf zwei Köpfe reduziert, die Schwedin Maria wurde gleich durch drei Landsfrauen ersetzt und mit Zarife kam eine türkische Holländerin. Außerdem hat mein Dorm-Stockwerk Zuwachs von zwei Griechen erhalten. Schließlich also bin ich (mit Nesrin) der einzige Almanlı im Dorm bzw. durch meine Umbennung in "Lütfü" durch die türkischen Freunde ist meine Turkifizierung eh weiter im Fortschreiten begriffen.
(Richtig kosmopolitisch gings außerdem gestern bei Juliens Geburtstagsparty zu, als sich dort zu den bereits genannten Nationalitäten noch Franzosen, Italiener, Spanier und DänenInnen gesellten. http://www.cafe-international.com/ ließ grüßen!) Mal sehen, wie sich der Gen-Pool vermischt und was alles in der zweiten Hälfte meines Aufenthalts mit mir und meiner Welt passieren wird.

Was alles passiert? Die Zeitungen, Magazine, Fernsehsender und Homepages verraten es uns heute ja fast schon ohne, dass wir es wollen. Begriffe wie Islam, Terror, Migranten, al Qaida und Irak, Kampf der Kulturen und Parallelgesellschaften, Mohammed-Karikaturen und Meinungsfreiheit, EU-Beitritt der Türkei, Kurden und Armenier, Nationalismus, Multikulturalismus und Kosmopolitismus scheinen überall zu fallen wie Domino-Steine - automatisch, unaufhaltsam und oft rücksichtslos, sind sie doch gewichtig wie Beton. Manchmal fühle ich mich als würden diese Steine nur so auf mich einprasseln, angestoßen von unbändigen Kräften - weil ich mir dieses spannende Studienfeld als Schwerpunkt ausgesucht habe; weil ich Informationen hierfür brauche, die es abzuwägen gilt um zu einer eigenen, reflektierten Meinung zu kommen; und weil doch die Ereignisse schneller passieren als ich die zuvor geschehenen reflektieren kann... Der Weisheit letzter Schluss, meinte al-Mutamid (1040 - 1095), ist, dass nur der weise ist, der nie weise ist. Die Balance finden zwischen nötiger und unnötiger Information, das Eigene finden in der sprudelnden Quelle der Meinungen erscheint mir angesichts all dessen als das Wichtigste, oder? Sich über das Gute freuen, das heute lacht, und darüber alles Vergangene vergessen. Und an das tunesische Sprichwort denken:

"Lebst Du nur unter Einäugigen, so sorge beizeiten dafür, dass auch du nur noch ein Auge hast."

Für die Aufmerksamkeit dankt
Ludwig Paşa