Montag, September 26, 2005

Ende der ersten Woche - Wochenende


Die erste Woche ist rum. Ein Resümee? Abgesehen von den üblichen Dingen - unübersichtliche aber atemberaubende Stadt, nervtötender Verkehr, wohltuende Lebensader Bosporus, freundliche Menschen und super Uni - kann ich nur sagen: kommen und selbst ein Bild machen (oder meherere Duzend wie ich bereits, von denen ich aber nur einen Bruchteil ins Netz stellen kann). Mir gehts soweit ganz gut, hab mich mit meinen Miterasmuslern ganz gut angefreundet und auch schon einge türkische Bekanntschaften gemacht, die sich - so stumpfsinnig und einseitig die Betonung ist - absolut unterscheiden von "den Türken" (oder besser dem gaengigen Türkenbild, das meine verehrten LeserInnen im Gegensatz zu vielen anderen nicht haben). Aber auch ein eben solches schiefes Bild könnten meine Worte nicht und meine Fotos nur begrenzt zurecht rücken, also nochmal: selbst kommen, selbst gucken, selbst bilden. Und selbst jene Eindrücke machen, die ich bekomme - und die mich immer noch ob ihrer Fülle ermüden.

Mein Wochenende war grossartig. Hatten am Samstag das grosse Welcoming der Erasmusler an der Uni: Begrüssungsworte des Auslandsamtes, bestehend aus vier super netten, absolut westlich erscheinenden, topmodern gekleideten türkischen Frauen zwischen dreissig und vierzig, die sich liebreizend um uns kümmern. Anschliessend Einladung zum Mittagessen, gefolgt von Vortraegen. Eigentlich war auch die Besichtigung des anderen Campus' ın Dolapdere vorgesehen, aber die dort stattfindende Historikerkonferenz und die gleichzeitig ablaufende Demonstratıon türkischer Nationalisten verhinderten eine Fahrt dorthin.
Dabei geht es darum, dass die türkische Öffentlichkeit immer noch damit hadert, den Völkermord an den Armeniern, begangen 1915/16, als solchen anzuerkennen, was zwar nur indirekt, aber nicht minder heftig von der EU gefordert wird. Dabei geht es nicht nur um die terminologische Anerkennung, man befürchtet auch die Beschuldigung von Vaetern und Grossvaetern als Mörder, sowie die Forderung nach Rückgabe enteigneter Besitztümer. Gleiches, nur wohl in geringerem Ausmass, wirft die Türkei aber auch den Armeniern vor und sihet sich selbst auch nicht in alleiniger Schuld, wurden die Türken damals doch auch von anderen Nationen bei ihrem Befreiungskampf unterstützt. Die Sache ist also ziemlich verworren und wahrscheinlich von der Vergangenheit bereits unkenntlich gemacht worden, aber es bleiben Anklagen, Forderungen und offene Fragen.
Die drei bedeutenden İstanbuler Universitaeten Bosporus, Sabancı und Bilgi hatten sich seit Anfang des Jahres nun um eine alle Beteiligten umfassende Konferenz zur Untersuchung der Vorgaenge bemüt, wurden aber immer wieder ausgebremst. War es anfangs noch der türkische Justizminister Çiçek, der im Abhalten einer solchen Konferenz gar Landesverrat vermutete, erklaerte nun das oberste türkische Gericht die Konferenz für abgesagt, wenn nicht Informationen über die Teilnehmer und deren Intentionen bekannt gemacht würden. Und auch die türkische Regierung wollte die Konferenz eigentlich auch erst nach dem 3. Oktober, dem Beginn der Beitrittsverhandlungen, beginnen lassen, obgleich sie nunmehr der Kofnerenz positiv gegenübersteht, da diese Sache ein Thema der Historiker und nicht mehr der Poliıtiker sein sollte. Dass die Konferenz nunmehr (und unter hohem Polizeiaufkommen) an meinem Campus stattfinden konnte, ist dem Umstand zu verdanken, dass das Gericht in seiner Verbotserklaerung dummerweise vergass, Bilgi zu erwaehnen, sodass sich Bilgi nicht angesprochen sah und kurzerhand die Konferenz in seinen Raeumen abhielt. Noch weıss ich nicht, was rauskam, aber ein teilnehmender Professor erzaehlte mir, es würden erstmals Dinge angesprochen, über die bislang noch niemand in dieser Form gesprochen haette.
Ehrlich gesagt, gerade diese Dynamik in der türkischen Gesellschaft macht die Türkei für mich so interessant. Mehr dazu sicherlich, wenn meine Kurse anlaufen.

Zurück zum Wochenende. Abends sind ein paar Erasmusler und ich nach Beyoğlu, wo Menschenmassen unterwegs waren, wie sonst nur an Weihnachten in München. Bisschen Bier, bisschen Rakı und erstes Observieren, was Istanbul so zu bieten hat (und das ist wahrlich einige!!!). Gegen halb zwei ins Bette, denn Sonntags hiess es ab aufs Schiff zur Bosporus-Tour. Trotz Regenwetter war's super schön und ich konnte die anderen Yabancılar - zwei Schweden, vier kleine Portugiesinnen, einen Franzosen, zwei Polen und viele Deutsche (Konstanz, Frankfurt/ Oder, Hamburg, Berlin und München) - besser kennen lernen. Die ganze Tour dauerte fünf Stunden und wird für alle meine Besucher ins Pflichtprogramm aufgenommen.
Mit dieser schmackhaften Bemerkung schliesse ich dieses Statement und verbleibe mit den allerallerallerbesten selamlar an Euch

Ludwig Paşa

2 Comments:

Anonymous Anonym said...

Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

9:18 PM  
Anonymous Anonym said...

Lieber Ludwig,
wie schoen, dass du gut angekommen bist und dich anscheinend ganz hervorragend einlebst (hatten auch nicht daran gezweifelt!). Wir verfolgen hier im herbstlichen Oberbayern interessiert deine Wege und wünschen dir viele spannende Horizonterweiterungen. Bei uns ist bis auf die Schnupfennasen alles ok. Ach ja, das mit den Portugiesierinnen klingt vielversrechend! Bitte mehr Details! ;-)
Liebe Grüße,
Christine, Rainer + Silas

8:19 PM  

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